Die Bedeutung der „Urwälder“
Doch warum brauchen wir Urwälder? Schauen wir uns die heutigen Wälder an: Sie werden forstwirtschaftlich genutzt, sind zerschnitten durch Wanderwege und Straßen und belastet durch Immissionen. Wir brauchen unsere Wälder zur Erzeugung des nachhaltigen Rohstoffs Holz. Doch das entnommenene Holz steht dann nicht mehr den natürlichen Kreisläufen des Ökosystems zur Verfügung. Der Stuhl im Wohnzimmer kann eben dem Käfer im Wald keine Nahrung mehr bieten.
Nicht alle Pflanzen und Tiere können sich an diese Eingriffe in das Ökosystem Wald anpassen. Und da in der Natur alles eng miteinander vernetzt und voneinander abhängig ist, verschwinden, wo eine Art fehlt, wie in einer Kettenreaktion, bald weitere Arten. In einigen Regionen Thüringens prägen auch heute noch schnell wachsende, angepflanzte Fichten- und Kiefernwälder die Landschaft. Allerdings ist hier ein Umdenken der Forstwirtschaft schon seit vielen Jahren erkennbar. Waldumbau wird seit vielen Jahrzehnten praktiziert und zeigt auch bereits Erfolge. Laut der aktuellen Bundeswaldinventur werden die bewirtschafteten Wälder in Deutschland baumarten- und strukturreicher, älter und somit naturnäher. Die heimische biologische Vielfalt ist dennoch schon lange gefährdet, wenn auch im Offenland noch verstärkter als im Wald.
Im Wald betrifft dies vor allem Tier-, Pflanzen- und Pilzarten, die an sehr lichte Waldstrukturen und Übergangsbereiche zwischen Wäldern und extensiv genutzten landwirtschaftlichen Flächen spezialisiert sind. Aber auch Arten, die von Natur aus auf sehr hohe Totholzvorräte angewiesen sind, haben es in bewirtschafteten Wälder schwer.
Trotz relativ stabiler Vorkommen von den meisten an den Wald gebundenen Arten –die heimische biologische Vielfalt insgesamt ist schon lange stark gefährdet.
Aus ökologischer Sicht sind Wälder mit altem Baumbestand und einer Vielzahl von Mikrohabitaten besonders wertvoll. Solche Bäume finden sich zwar auch in Wirtschaftswäldern, aber irgendwann sind diese Bäume dann für die Holznutzung vorgesehen, lange bevor ihr natürlicher Tod eintreten würde. So fehlen sie dann für Tiere und Pilze, die das Holz zersetzen. Wälder, in denen das flächig möglich ist, gibt es leider nur selten. Lediglich 2,3 Prozent der Wälder in Deutschland dürfen sich natürlich entwickeln. In der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt sind jedoch mindestens 5 Prozent vorgesehen. Thüringen hat dieses Ziel seit 2019 mit seinen Waldgebieten, in denen keine forstliche Nutzung mehr erfolgt, bereits erreicht. Sie bieten ungestörten Lebensraum für Tiere, die größere Gebiete brauchen. Und für viele hochspezialisierte Käferarten, die auf ein Nebeneinander verschiedener pflanzlicher Entwicklungsstadien im Wald angewiesen sind. Nur das kann den Fortbestand dieser Arten sichern. Viel Totholz in der Alters- und Zerfallsphase von Wäldern ist wie eine sprudelnde Quelle für immer neues Leben: Es bietet Nahrung und Nisträume für Höhlenbrüter und die Basis für ökologisch wichtige Zersetzer wie Pilze.
Das Konzept
Die Entwicklung weg von forstlich geprägten Wirtschaftswäldern zurück zu noch naturnaheren, vom Menschen kaum berührten „Urwäldern“ hat also gleich mehrere positive Effekte. Natürliche Abläufe gewinnen wieder eine eigene Dynamik, gefährdete Arten bekommen Raum und Ruhe und können sich erholen. Aber auch Umweltpädagogik und Tourismus kommen nicht zu kurz: Die Thüringer Urwaldpfade sollen die naturverträgliche regionale Entwicklung unterstützen und zusätzlich Besucher anziehen, die wiederum für Einnahmen in Hotels, Gasthäusern und Geschäften sorgen.
Für das Projekt „Thüringer Urwaldpfade – Wege in die Urwälder von morgen“ werden ausschließlich bestehende Wanderwege genutzt. Wälder, die bereits aus der Nutzung genommen sind, oder die kurz vor der Aufgabe stehen, sollen zukünftig zu „Urwäldern“ werden. Durch sie werden dann wunderschöne Rundwanderwege führen. Wie auf einem Lehrpfad können Wanderer die entwicklungsgeschichtlichen und ökosystemischen Zusammenhänge des Waldes und speziell des „Urwaldes“ entdecken und verstehen.
Das Projekt „Thüringer Urwaldpfade – Wege in die Urwälder von morgen“ wird vom WWF Deutschland in Kooperation mit dem Naturkundemuseum Erfurt realisiert und aus Mitteln der Europäischen Union (ELER) über das Förderprogramm des Thüringer Umweltministeriums zur Entwicklung von Natur und Landschaft (ENL) finanziert.